Cory Doctorow entwickelt eine spannende Vision eines selbstverwalteten Netzwerks von Aussteiger:innen, die in High-Tech-Kommunen eine Alternative zum kapitalistischen Mainstream aufbauen. Ihr erfahrt außerdem, warum 3D-Drucker eine potentiell revolutionäre Technologie werden könnten!

Cory Doctorow ist eine Ikone in Nerd-Kreisen. Er setzt sich seit Jahren unter anderem für ein freies Internet und gegen restriktives Urheberrecht ein. Mit Walkaway schrieb er einen actionreichen Roman, der von ihm selber „Post-Cyberpunk“ genannt wird. In meinen Augen enthält die Geschichte aber so viele hoffnungsvolle und revolutionäre Elemente, dass Solarpunk in meinen Augen ebenfalls ein passendes Label ist.
Bitte alle aussteigen!
Hubert, Seth und Natalie sind unglücklich mit ihrem Leben im späten Kapitalismus. Dieser ist in der nahen, undatierten Zukunft – noch mehr als heute – von ausbeuterischen Jobs, bedeutungslosem Konsum, konstanter Überwachung und Menschenfeindlichkeit geprägt. Als sie von wachsenden Gemeinschaften von Aussteiger:innen abseits der großen Städte hören, beschließen sie sich diesen anzuschließen. Die Kommune, bei der sie landen, entpuppt sich als anarchistische High-Tech-Gemeinschaft. Mithilfe von Technologien wie 3D-Druckern, erneuerbaren Energien, einer effizienten Kreislaufwirtschaft und digitaler Infrastruktur haben sich die sogenannten Walkaways ein autarkes Leben geschaffen. In ihrem Überfluss können sie es sich sogar leisten, jederzeit neue Menschen mit offenen Armen zu empfangen.
Die Walkaways leben allerdings in einer gesetzlichen Grauzone und sind deswegen häufiger von Übergriffen und Konflikten aus Default – so nennen sie die kapitalistische Mainstream-Gesellschaft – betroffen. Polizei und autoritär gesinnte, stark bewaffnete Nachbar:innen machen ihnen das Leben schwer. Auch im Inneren ist das Leben kein konfliktfreies Paradies. Beispielsweise sorgt ein Streit, ob die notwendige Arbeit und der Zugang zu Ressourcen nach Bedarf oder nicht doch nach Leistungsprinzip geregelt werden sollte, für Spaltung und einen Putsch. Trotzdem schaffen es die Aussteiger:innen immer wieder, ihre Strukturen neu aufzubauen und den Traum einer befreiten Gesellschaft zumindest teilweise im Kleinen zu leben.
Der latente Konflikt mit Default eskaliert, als eine Gruppe von Wissenschaftler:innen aus dem Netzwerk der Walkaways einen Durchbruch mit einer Technologie zum Mindupload machen. Diese soll die Übertragung eines Bewusstseins in den Cyberspace ermöglichen – und somit langfristig den Tod überwinden. Die superreiche Elite befürchtet, dass die Verbreitung der Technologie ihre Position in der Gesellschaft untergraben könnte. Wer wäre noch bereit, unter miesen Bedingungen zu arbeiten, wenn die immer im Hintergrund schwebende Drohung des Hungertodes wegfallen würde? Ein ungleicher Kampf um Leben und Tod entbrennt…
Technologie für die Revolution
Eine zentrale Frage im Solarpunk lautet: Wie kann Technologie uns helfen, demokratischer und nachhaltiger zu werden? Doctorow schafft es, existierende Technologien gerade so weit in die Zukunft zu verlängern, dass das ihnen inne wohnende revolutionäre Potential sichtbar wird; und er kombiniert sie auf eine Weise, dass daraus ein kohärentes Ganzes entsteht.
Sowohl die triste Beschreibung der Default-Welt als auch die Strukturen der Walkaways sind sehr durchdacht und fast immer glaubwürdig genug, um Leser:innen nicht zu verlieren. Doctorow ist außerdem technik- und philosophieverliebt genug, um die Bestandteile seiner Vision regelmäßig im Detail zu erklären (oder manchmal von Figuren erklären zu lassen). Das nimmt an manchen Stellen zwar etwas das Tempo raus, tut dem Weltenbau aber sehr gut.
Exkurs: 3D-Drucker im Solarpunk
3D-Drucker sind im Solarpunk allgegenwärtig. Sie kommen gefühlt in jeder zweiten Geschichte vor. Die Drucker scheinen für viele Autor:innen neben Erneuerbaren Energien eine zentrale Technologie des Genres zu sein. Und tatsächlich spricht einiges dafür, dass 3D-Drucker das Potential haben, unsere Art zu leben und zu produzieren grundlegend nachhaltiger und demokratischer zu machen. Zum einen verwenden additive Fertigungsverfahren (wie der 3D-Druck auch genannt wird) je nach Produkt nur einen Bruchteil der Ressourcen, die herkömmliche Herstellung benötigt. Es wird nichts ausgestanzt oder abgeschnitten, sondern nur so viel Material verwendet, wie für den Gegenstand gebraucht wird. Und es gibt bereits heute viele vielversprechende Modellversuche, in denen Ersatzteile, Mahlzeiten und sogar Häuser gedruckt wurden.
Zukunftsforscher wie Jeremy Rifkin glauben außerdem, dass 3D-Drucker in Kombination mit digitalen, frei verfügbaren Anleitungen unter Open-Source-Lizenz in naher Zukunft ein neues Wirtschaftsmodell jenseits von Knappheit herbeiführen könnten. Viele Dinge, die wir brauchen, können wir dann einfach zum Preis der Material- und Energiekosten in einem Nachbarschaftszentrum drucken lassen. Dabei sparen wir uns nebenbei Transport, Lagerung, Zwischenhändler und vieles mehr.
Natürlich sind bis dahin noch viele offene Fragen zu klären: wie kann die Druckmasse umweltfreundlich gestaltet werden (bisher besteht sie oft aus Plastik)? Wie sieht ein effizientes Recycling-System aus? Wer hat an welchem Ort Zugang zu einem solchen Drucker? Bis dahin kann man in Makerspaces auf der ganzen Welt Menschen treffen, die mit solchen und anderen spannenden Ideen experimentieren und sie ausprobieren!
Der Handlungsstrang um die digitale Unsterblichkeit per Bewusstseinsupload fällt hier etwas heraus, weil er zu weit hergeholt erscheint. Damit will ich nicht sagen, dass ich das prinzipiell für unmöglich halte; ich glaube nur, dass eine solche Technologie die Möglichkeiten der skizzierten nahen Zukunft weit übersteigt. Aber es passt in meinen Augen auch nicht in ein Solarpunk-Setting, weil es in seiner Negation von Körperlichkeit und Verbindung zur Natur eher wie ein feuchter Cyberpunk-Traum wirkt. Außerdem haben die Transhumanist:innen, unter denen diese Idee am populärsten ist, in vielerlei Hinsicht problematische Einstellungen zu Demokratie und Gerechtigkeit. Aber darüber kann man natürlich streiten. Insgesamt ist Walkaway aber ein Solarpunk-Highlight: durchdacht und actionreich, emotional und mitreißend.
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