Freie Geister kann man wohl Proto-Solarpunk nennen: Der Roman wurde veröffentlicht, lange bevor der Begriff überhaupt geprägt wurde, gewann als eins von sehr wenigen Büchern mit Hugo, Nebula und Locus die drei wichtigsten Science-Fiction-Preise, und gilt vielen als eine der wichtigsten Darstellungen einer hiearchiefreien Gesellschaft in der Science-Fiction.

Forschungsreise auf Urras
Die Hauptfigur des Romans ist der theoretischer Physiker Shevek; seine Forschung steht kurz vor einem Durchbruch, der Überlichtgeschwindigkeit in der Raumfahrt ermöglichen könnte. Shevek lebt in einer anarchistisch organisierten Gesellschaft auf dem Mond Anarres, die sich nach einer gescheiterten Revolution auf dem Heimatplaneten Urras 200 Jahre vor Beginn der Erzählung in dieser Kolonie niedergelassen hat.
Shevek steht im Rahmen seiner Forschung im Austausch mit Wissenschaftler:innen von Urras, die im kapitalistisch geprägten Staat A-Io leben. Dadurch gilt er vielen auf Anarres als Verräter – ein Konflikt, der zusätzlich von einem missgünstigen Konkurrenten angeheizt wird und Shevek in seiner Arbeit behindert. Deshalb entschließt er sich, auf eine Forschungsreise zum Heimatplaneten zu reisen, um seine Theorie dort mithilfe der Kolleg:innen zu vervollständigen.
Bei seinem Besuch ist Shevek hin- und hergerissen: Er bewundert den materiellen Überfluss, aber fühlt sich davon auch angeekelt. Er beginnt zudem an anarristischen Erzählungen über den ausbeuterischen Kapitalismus zu zweifeln, weil er zunächst keinen Kontakt zu Menschen aus unteren Klassen hat. Gleichzeitig wird ihm klar, dass seine Forschungsergebnisse auf Urras wohl vor allem für ökonomisch-militärische Zwecke genutzt werden würden. A-Io steht zudem im Konflikt mit dem autoritär-kommunistischen Staat Thu – ein Szenario, das mit Stellvertreterkriegen stark an den irdischen kalten Krieg erinnert. Shevek muss sich entscheiden, was mit seiner Forschung passieren soll, und wie er aus diesem Dilemma wieder entkommen kann.
Planet der Habenichtse
… hieß der Roman in der ersten Übersetzungsfassung. Die Verbindung zwischen der Abschaffung von Privateigentum auf Anarres und der individuellen Freiheit, die im englischen Titel (the dispossessed) so großartig angespielt wird, geht hier leider verloren. Neben der eigentlichen, oben skizzierten Story beschreibt jedes zweite Kapitel Sheveks Hintergrundgeschichte, sodass Leser:innen abwechselnd die aktuelle Romanhandlung auf Urras und die alltägliche Organisation in einer anarchistischen Gesellschaft miterleben.
Auf Anarres gibt es weder Geld noch Eigentum oder geschriebene Gesetze. Güter werden nach Bedarf verteilt; es gibt zusätzlich zu den privat genutzten Wohnungen kommunale Infrastruktur zum Beispiel fürs Essen, und auch die Sprache ist von einer Logik geprägt, die Beziehungen statt Besitz in den Mittelpunkt stellt. Ein computerbasiertes System namens DivLab (Division of Labour) organisiert die Arbeitsverteilung und bringt so Fähigkeiten und Interessen der Menschen sowie Bedürfnisse der Gemeinschaft zusammen (1974, als der Roman zuerst veröffentlicht wurde, noch eine absolut neue Perspektive!).
Das Leben auf Anarres erscheint hart – insbesondere im direkten Vergleich mit der Darstellung der kapitalistischen Oberschicht auf Urras. Das Land auf dem Mond ist nicht besonders fruchtbar, und die Gesellschaft ist nach wie vor abhängig von einem gewissen Maß an Außenhandel mit dem Planeten. Auch geniale Wissenschaftler:innen wie Shevek können sich nicht vor körperlichen Arbeitseinsätzen drücken.
Doch tatsächlich sind meisten Bewohner:innen mit diesem Leben insgesamt zufrieden – für sie scheinen diese Einschränkungen ein kleiner Preis zu sein, um in einer klassenlosen, hierarchiearmen Gesellschaft zu leben, in der sie weitestgehend als Gleiche behandelt werden und nicht um die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse bangen müssen.
Eine mehrdeutige Utopie
Ich schreibe „hierarchiearm“ und „weitestgehend“, weil auch in dieser Gesellschaft nicht alle Statusunterschiede überwunden wurden. Sheveks kleingeistiger Konkurrent schafft es aufgrund seiner Position als Verleger, die Veröffentlichung von dessen Forschung stark zu verzögern. Auch von Anderen wird Shevek ausgeschlossen, weil sie seinen Kontakt zu Urras als Verrat betrachten. Die anarchistische Gesellschaft in Freie Geister ist (wie auch der englische Untertitel „an ambiguous utopia“ zeigt) keine perfekte Utopie, in der immer alle glücklich und zufrieden sind – dazu sind Menschen zu unterschiedlich, und persönliche Konflikte und Machtspielchen lassen sich vermutlich niemals vollständig abschaffen. Die Frage ist eher, ob sie eine Randerscheinung in der Gesellschaft sind, oder ob wir ihnen erlauben wollen, alles zu dominieren.
Eine Frage, die le Guin durch das Setting auf dem Mond elegant umschifft, ist die nach Konflikten mit kapitalistisch (oder auch autoritär-kommunistisch) organisierter, militarisierter Staatsgewalt. Historische anarchistische Experimente wie die Pariser Kommune, die Münchner Räterepublik oder das syndikalistische Spanien wurden regelmäßig schnell militärisch beendet; auch heute sind progressive Projekte wie die Zapatist@s und Rojava permanent von den sie umgebenden Staaten bedroht, und das verändert natürlich auch die Dynamik innerhalb dieser Gesellschaften.